Gedanken aus der Yogapraxis
PERFORMATIVE PRACTICES
November 2025
„Ein buddhistischer Mönch war allein in einem Tempel. Er warf sich zu Boden, schlug sich kräftig auf die Brust und murmelte halblaut: ‚Ich bin ein Nichts, ich bin ein Nichts, ich bin ein Nichts...‘ Da betrat ein Novize den Tempel. Er blickte sich um, entdeckte den Mönch und kniete neben ihm nieder. Gemeinsam mit dem Mönch murmelte auch er: ‚Ich bin ein Nichts, ich bin ein Nichts, ich bin ein Nichts...‘ Plötzlich kam das Faktotum und wollte im Tempel den Fußboden fegen. Als es die beiden Knienden sah, kniete es auch nieder und sprach mit den anderen beiden im Chor: ‚Ich bin ein Nichts, ich bin ein Nichts, ich bin ein Nichts...‘ Da stieß der Mönch den Novizen an und sagte ziemlich entrüstet: ‚Na, da schau an, wer sich alles einbildet, ein Nichts zu sein.‘
Und die Moral von der Geschicht‘: Selbst das Nichts schützt vor Rang und Namen nicht!“
Philosophie-Kalender 2025 | 27.02.2025 | Harenberg Verlag
Man sagt, es gäbe im Yoga (und vor allem im Ashtanga) Menschen, die mit ihrer Praxis etwas beweisen wollen: sich selbst, dem/der Lehrenden, den anderen Praktizierenden. Man sagt auch, es gäbe im Yoga (vor allem im Ashtanga) Menschen, die zuweilen auf jene andere, die mit ihrer Praxis schon etwas weiter sind – alleine Drop-Backs machen, durch ihre Vinyasas schweben, die dritte, vierte, fünfte Serie üben – mit einem gewissen Gefühl von Scheelsucht schielen. Man sagt außerdem, es gäbe im Yoga (vor allem im Ashtanga) Menschen, Praktizierende wie Lehrende, die, betont-beiläufig bei jeder erst- und zweitbesten Gelegenheit, anderen Menschen, Praktizierenden wie Lehrenden, erzählen, wo sie überall praktiziert haben und mit wem und wie lange und welche Grade der Qualifizierung, Autorisierung, Zertifizierung – übrigens auch: Verletzungen – sie im Laufe der Zeit angesammelt haben.
So sagt man. Was wissen wir schon davon.
So weit, so menschlich. Und doch: Sollten es nicht gerade jene Vertreter unserer mundanen Spezies sein, die ihr Leben in Gänze oder zum Teil oder auch nur für ein oder zwei Stunden am Ende einer langen Woche einer Praxis widmen – Yoga, zum Beispiel –, in der es gerade nicht um Leistung und Ergebnisse und Vergleiche gehen soll, sondern vielmehr um Einsicht und Akzeptanz und Authentizität, die von solchen Konkurrenzkämpfen und Profilierungsgebaren Abstand nehmen sollten? Of course! Zeigt die Tatsache, dass es (mancherorts) nicht so ist, nicht auf, dass Yoga gar nicht funktioniert? Of course not! Ganz im Gegenteil: Wie durch ein Vergrößerungsglas – Richard Freeman würde sagen: wie in einem Spiegel – zeigt uns die Praxis des Yoga deutlich die uns bewussten und die uns unbewussten Denk- und Handlungsmuster auf – selbst dann, wenn wir meinen, sie längst erkannt und abgelegt zu haben.
Hierzu eine Anekdote aus meiner eigenen Praxis:
Im Sommer 2025 hatte ich das große Glück zusammen mit 50 tollen Menschen an einem Teacher Intensive mit Richard Freeman und Mary Taylor teilzunehmen. Über die vier Wochen des Kurses habe ich morgens neben einer außerordentlich sympathischen Norwegerin praktiziert, die sehr gewissenhaft an der vierten Ashtanga-Serie arbeitete während ich versuchte, mich wieder in die zweite Serie einzufinden. „That’s perfectly fine,“ sagte ich mir, „sie macht das Ihre, ich mache das Meine, ein jedem das Seine. Ich freue mich für sie und für ihre fortgeschrittene Praxis und akzeptiere voll und ganz wo ich bin. Allerdings... ganz nebenbei am Rande gefragt: Sind meine Asanas nicht viel integrierter? Fließt mein Atem nicht viel tiefer? Bin ich, in meiner bescheidenen Zufriedenheit mit den ersten beiden Serien, nicht eigentlich viel fortgeschrittener als diejenigen, die meinen, sie müssten unbedingt die Advanced Series meistern?“ So schnell schleicht sich das vergleichende, konkurrierende Denken über die Hinterwege einer vermeintlichen Akzeptanz und Gelassenheit in die Praxis ein: Wenn schon nicht in Flexibilität und Kraft überlegen, dann doch wenigstens in Aufmerksamkeit, Atmung und Intention!
Chögyam Trungpa (1939–87), Begründer der Shambala-Zentren in Nordamerika und Europa, hat sich in mehreren Vorträgen und Gesprächen in den 1970er Jahren mit den Fallgruben- und stricken spiritueller Praktiken auseinandergesetzt, die er in seinem gleichnamigen Buch als ‚spirituellen Materialismus‘ bezeichnet. Darin weißt er eindringlich darauf hin, dass „das Ego sich alles zu seinem eigenen Nutzen macht, sogar die Spiritualität“ (S. 13). Wie? Lehren und Praktiken werden als etwas betrachtet, was außerhalb von uns existiert – ein Ideal, das wir uns mithilfe bestimmter Texte, Bilder und/oder Leitfiguren vorstellen, dem wir nacheifern, an dem wir uns messen und mit anderen vergleichen können. Die Praxis wird so schnell zur performance: „Wenn der Lehrer von der Aufgabe des Egos spricht, imitieren wir die Aufgabe des Egos“ (id.). Wozu? Um uns darin bestätigt zu sehen, dass wir völlig ohne Ego sind – und damit unseren armen, ego-verhafteten Mitmenschen überlegen. Tragisch-komisch ist daran, dass wir zwar wirklich meinen, authentischer und empathischer und präsenter zu sein – schließlich, so denken wir, haben wir uns ja der Illusion unseres Egos befreit –, uns dabei aber immer weiter darin verstricken.
Auch das ist sehr menschlich – und damit, in einer gewissen Weise, sehr authentisch. Der Punktum saliens ist es, diese unsere Wesensart wahrzunehmen, sie anzuerkennen, und ihr mit Einsicht und Humor zu begegnen. Dann wird nicht nur ersichtlich, wer, im Falle unserer buddhistischen sangha vom Anfang, derjenige ist, der sich nur einbildet, ein Nichts zu sein, sondern auch möglich, durch den Hochmut zur Demut, durch die Illusion zur Realität und – im konkreten Kontext des Yoga – von den poses in die āsanas, von der performance zur Praxis zu kommen.
Trungpa, Chöyam (2002) Cutting Through Spiritual Materialism. Boston & London: Shambhala. (Übersetzt von der Verfasserin)
von Sarah Sallmann (November 2025)
Die Weisheit des Staunens
Oktober 2025
Staunen, sagte der griechische Philosoph Sokrates vor circa 2.500 Jahren, steht am Anfang der Philosophie (Plat. Tht. 155d). Der Mensch – in diesem Fall ist es der junge Mathematiker Theaitetos, den der Sokrates in einen seiner verfänglichen Dialoge verwickelt hat – sieht sich mit den Grenzen seines Wissens konfrontiert und kann, jedenfalls für einen Moment, nicht mehr als mit großen Augen und offenem Mund vor der unermesslichen Weite und Tiefe der Wirklichkeit stehen. Von hier geht er los, schreibt Aristoteles ungefähr einhundert Jahre später, um seiner Unwissenheit zu entkommen, denn es liege in der Natur des Menschen, nach Wissen zu streben, das beweise dessen Freude an den Wahrnehmungen seiner Sinne (Met. 980a). Und so beginnt er zu philosophieren (Met. 982b) – oder Yoga zu praktizieren.
Schon in der ersten (uns bekannten) Definition von Yoga, die wir in einem der frühen Upanishaden – einer Sammlung philosophischer Schriften des Hinduismus, die zwischen 700 und 200 v. u. Z. niedergeschrieben wurden –, wird Yoga unmittelbar mit der Kenntnis der ultimativen Wahrheit in Verbindung gebracht:
„Sobald die fünf Erkenntnisse der Sinne Die feste Bändigung der Sinneskräfte
Zusammenruhen mit dem Denken Nennt man die ‚Konzentration‘ [tām yogam].“
Und der Verstand sich nicht mehr regt,
Nennt man dies den höchsten Zustand. (Kath. 6.10–11)
Patañjalis bekanntes Sutra „yogaś citta-vṛtti-nirodhaḥ“ (1.2), in dem er Yoga als das Stillstehen der Bewusstseinsbewegungen beschreibt, klingt hier, etwa 600 Jahre früher, bereits deutlich an. Gleichzeitig zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zu dem, wie wir heute Erkenntnisse gewinnen und was wir unter Wissen verstehen: Nicht die empirische Beobachtung, kritische Analyse und logische Schlussfolgerung, sondern – so vermittelt es Krishna auch Arjuna in der Bhagavad Gītā (3.42) – gerade die Transzendierung der Sinneswahrnehmungen, des Verstandes, der Vernunft und sogar des höchsten Selbst, von ātman, führen zu wahrer Kenntnis und zur Erkenntnis der Wahrheit. Warum? Weil unsere Wahrnehmung und unser Denken immer biologisch determiniert, historisch entstanden und kulturell geprägt und damit in ihrer Erkenntnisfähigkeit begrenzt sind. Erst wenn die vielfältigen Bewegungen des Bewusstseins, die unsere Weltanschauung färben und formen, stillstehen, ist absolute Erkenntnis – d. h. Erkenntnis [, die die Unterscheidung von Subjekt (Erkennendem) und Objekt (Erkanntem) aufhebt – möglich. Patañjali bringt es so auf den Punkt:
„kṣīṇa-vṛtter abhijātasyeva maṇer grahī tṛ-grahaṇa-grāhyeṣu tat-stha-tad-añjanatā samāpatthiḥ“
Der Zustand [des Verstandes], dessen Bewegungen in Bezug auf den Erkennenden, das Instrument der Erkenntnis und das Erkannte abgeklungen sind, ist wie der eines Juwels, der die Farbe dessen zur Erscheinung bringt, das vor ihm steht. (Yogas. 1.41)
Heißt das, dass alles, was wir wahrnehmen und denken, hinfällig ist? Nein: Auch Patañjali setzt eine Art intellektuelle Tätigkeit, nämlich die differenzierende Wahrnehmung von Gedankenkonstrukten und Wirklichkeit, als Mittel zum Loslösen vom Denken voraus (Yogas. 2.26). Wenn das Denken vom Subjekt zum Objekt der Erkenntnis wird und durch die verschiedenen Übungswege des Yoga zum Stehen kommt – das, über die indogermanische Wurzel √sthau-, aus dem sich die uns bekannte Haltung samathitiḥ ableitet, mit dem Staunen verwandt ist –, kann, in einem Moment der Klarheit und Stille, die Wirklichkeit erkannt werden: tattva.
Das wusste vielleicht auch Sokrates. Seinem jungen Gesprächspartner, jedenfalls, erteilt der eminente Philosoph keine Rüge – im Gegenteil: „Gar sehr ist dies der Zustand eines Freundes der Weisheit, das Staunen,“ (Plat. Tht. 155d) ermuntert er ihn und lehrt uns alle, dass das Staunen bestenfalls nicht nur am Anfang, sondern auch am Ende jeder Suche nach Wahrheit und Wirklichkeit steht.
von Sarah Sallmann (Oktober 2025)